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Burnout: Immer noch besser werden

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Burnout Immer noch besser werden

Weil Burnout häufig die Krankheit der Fleißigen ist, versuchen viele Firmen, dem Ausfall motivierter Mitarbeiter vorzubeugen.
Von Jochen Brenner

Morgens war er immer gut gefüllt mit Anträgen, Nachfragen und auch mal mit Beschwerden. Mittags trafen ihn prüfende Blicke. Und wenn alles gut lief, und das war normal, dann war er am Feierabend leer. Der Postkorb war der Maßstab einer Generation von Sachbearbeitern bei der Gothaer Versicherung, 5350 Angestellte, rund 3,5 Millionen Versicherte. Der Postkorb teilte den Tag in mal anstrengende und mal befriedigende Aufgaben, die immer gleich endeten: mit ihrer Erledigung. "So ist der Mensch", sagt Thomas Barann, der bei der Gothaer fürs Personal verantwortlich ist. "Er braucht Anfang und Ende."

Aber ein Ende gibt es für die Sachbearbeiter heute nicht mehr. Anträge, Nachfragen und auch mal Beschwerden erreichen sie heute elektronisch, und es hört nie auf. "Wir leiden darunter, unseren eigenen Ansprüchen nicht zu genügen", sagten Baranns Kollegen bei einer Mitarbeiterbefragung ihrem Personalchef. "Wir werden nie fertig."

Viele Frankfurter Banker hatten in den vergangenen Jahren genau davor Angst: dass ihnen die Arbeit ausgehen könnte. Als die Commerzbank-Bosse 2009 den alten Rivalen, die Dresdner Bank, kauften, da war den Mitarbeitern klar, dass eins und eins nicht zwei ergeben würde. Die neue Commerzbank teilte mit, 6500 Stellen in Deutschland abzubauen. Dann kam die Finanzkrise, in der die Commerzbank nur dank staatlicher Hilfe überlebt hat.

Riecht's schon brenzlig?

"Es gibt in vielen Berufen keine Garantie auf einen Lebensarbeitsplatz mehr", sagt Karin Goldstein, die in der Personalabteilung das Gesundheitsmanagement leitet. "Auch die Arbeit in einer Bank ist schneller, komplexer, zeitsensibler geworden." Kaum ein Commerzbanker, der das nicht gespürt hätte. 72 Prozent, das ergab eine Umfrage, waren trotz einer Erkrankung zur Arbeit erschienen.

"Sonst bleibt zu viel liegen"

Ein Drittel aller Arbeitnehmer in Deutschland ging krank arbeiten, weil "sonst zu viel liegenbleibt". Das ergab der jüngste AOK-Fehlzeitenreport. Mediziner nennen dieses Verhalten Präsentismus: Wer immer kommt und lange bleibt, fliegt vielleicht nicht raus. Das ist der Gedanke.

Er ist falsch. "Kein Arbeitnehmer leistet mehr, weil er unter psychischen Druck gerät", sagt Kerstin Reviol, die beim TÜV Süd die Abteilung Arbeitspsychologie leitet. "Hoher Druck produziert auf Dauer Ex-Leistungsträger, das kann keine Firma wollen."

Reviol wird meist gerufen, wenn der Burnout sich schon angeschlichen hat. "Ich erlebe, dass immer noch viele Unternehmen nicht wissen, wie sie mit einem betroffenen Kollegen umgehen sollen. Sie wollen alles richtig machen und behandeln den Ausgebrannten wie ein rohes Ei. Schlimmer geht es eigentlich nicht", sagt sie.

Bei einer Grippe oder einem Beinbruch wissen die Kollegen, wie sie reagieren können. Beim Burnout gibt es kein gelerntes Verhalten, die Diagnose überfordert die meisten. Das spürt der Betroffene, seine Situation verschlimmert sich noch.

"Stress ist nicht nur persönliche Einschätzungssache"

Reviol trifft sich dann mit dem Patienten. Sie kommt in die Firma und erarbeitet ein Konzept, das detailliert beschreibt, wie es weitergehen kann. Heimlich tut sie das nicht, die Kollegen wissen Bescheid. "Jeden kann es treffen, und Burnout ist, vor allem in den frühen Phasen, sehr gut behandelbar." Bis zum Beginn einer ambulanten Therapie begleitet Reviol den Mitarbeiter selbst. Welche Aufgaben könnte ein Stellvertreter übernehmen? Was kann das Team erledigen? Zurzeit vergehen im Schnitt fast sechs Monate, bis ein geeigneter Therapieplatz frei wird.

Die Nachfrage steigt stetig, aber warum eigentlich? "Immer mehr Menschen arbeiten in Berufen, deren Kern eine Dienstleistung ist. Und Dienstleistung bedeutet in den meisten Fällen, mit Kunden in Kontakt zu kommen", sagt Kerstin Reviol. "An der Schnittstelle Mensch-Mensch aber ist die Gefahr am größten, innerlich auszubrennen."

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Volkskrankheit Burnout: Wie Erschöpfung die Volkswirtschaft schwächt

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Wenn Stress-Faktor Nummer eins der Mensch ist, wie muss es dann Angestellten gehen, die ausschließlich mit Kunden arbeiten, etwa im Vertrieb? Karin Goldstein von der Commerzbank erzählt, dass sie im Schatten ihrer Mitarbeiter bemerkenswerte Erfahrungen gemacht habe: Unter Führung eines Herdecker Arbeitspsychologen stellten sich 20 Commerzbank-Kollegen einer Untersuchung, die Experten "Shadowing" nennen. Ein Wissenschaftler begleitete dabei die Banker in ihrem Alltag auf Schritt und Tritt: beim Kundengespräch, in den Pausen, bei stillen Tätigkeiten.

"Es ging darum, objektivierbare Ergebnisse zu finden"

Ziel des Shadowing war es, sagt Goldstein, den Kollegen in "seinem verhaltensrelevanten Umfeld" zu erleben. Der Schatten maß auch in regelmäßigen Abständen Blutdruck und Herzfrequenz. "Uns ging es darum", sagt Goldstein, "objektivierbare Ergebnisse zu finden. Wir wollten trennschärfer werden, denn Stress ist nicht nur persönliche Einschätzungssache."

Goldstein spricht dann nicht darüber, ob das Kundengespräch beim Shadowing der stressigste Teil war. Für eine Bank, die im Wettbewerb um Privatkunden steht, würde es vermutlich nicht ins Bild passen, sollten es gerade die Kunden sein, die Berater in den Burnout treiben. Es sagt aber viel, dass die Commerzbank externe Berater beschäftigt, die sich um die psychischen Nöte der Banker kümmern.

"Employer Assistance Program" nennt die Bank etwa eine neue anonyme Hotline für die Mitarbeiter in der Fläche. "Wir müssen auch die Kollegen in den Filialen an der tschechischen oder polnischen Grenze erreichen", sagt Goldstein, die jahrelang eine Commerzbank-Niederlassung in Wiesbaden geleitet hat.

Ein volkswirtschaftlicher Schaden von 6,3 Milliarden Euro

Auch für die Zeit nach dem Burnout hat die Bank einen Plan. "Eingliederungsmanagement" nennt Goldstein das Angebot, mit individuellen Stundenzahlen ins Unternehmen zurückzukehren. Das kommt den Menschen entgegen, spart der Bank aber letztlich auch Geld.

Durch psychische Erschöpfung am Arbeitsplatz entstand der deutschen Volkswirtschaft 2009 ein Schaden von 6,3 Milliarden Euro, ergab eine Studie der Betriebskrankenkassen. Die Summe könnte geringer ausfallen, wenn die Unternehmen mehr auf die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeiter achten würden.

Reinhard Ahrens kennt diesen Zusammenhang sehr gut, und er kennt auch jene, die eigentlich die Macht hätten, daran etwas zu verändern: die Top-Manager der Dax-Unternehmen. Er berät sie bei der Personalentwicklung, er coacht sie, wenn sie vor lauter Arbeit nicht mehr weiterwissen. Bei den meisten von ihnen, das ist Ahrens' Befund, mangelt es an Problembewusstsein, wenn es um das Phänomen Burnout geht.

Der Mensch ist zäh - und irgendwann kippt er doch um

Ahrens kann natürlich keine Namen nennen. Aber beschreiben kann er, was er ganz oben erlebt. Zum Beispiel den Fall eines Managers, dessen zweite Schicht seines Arbeitstages abends um 20 Uhr beginnt, wenn andere längst zu Hause sind. Dann beginnt er, seine Kollegen in Übersee mit Aufträgen zu versehen, wenn durch die Zeitverschiebung deren Arbeitstag beginnt.

Niemand hält das ewig durch. "Meine Klienten sind Menschen unter starker Anspannung, mit hoher Verantwortung und mit hohen Gehältern. Auch sie müssen seit einigen Jahren mit immer weniger Zeit, weniger Mitteln und weniger Mitarbeitern klarkommen", sagt Ahrens.

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Prominente Burn-out-Fälle: Wenn Erfolg müde macht

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Ahrens beschreibt diese Menschen als zäh, "die halten das Tempo eine ganze Zeit lang aus, sie haben gelernt, auszuhalten, vielleicht sind sie überhaupt erst dorthin gekommen, wo sie sind, weil sie Anspannung ertragen konnten." Diese Manager kommen zu Ahrens meist ohne die konkrete Absicht, sich wegen eines Burnouts behandeln zu lassen. Sie wollen ein Coaching, merken, dass sie nicht mehr die Alten sind. "Was kann ich tun, damit ich noch besser werde?", fragen die meisten.

Jede Erfahrung wird emotional markiert und abgespeichert

Er lässt die Workaholics dann ihren Alltag schildern, ihre Tätigkeiten. "Die erzählen mir dann oft, was sie organisatorisch jetzt schon an Tricks draufhaben, um schneller zu werden", sagt er. "Ich frage sie dann, was genau sie jetzt noch verbessern wollen." Danach beginnt das, was der Psychologe die "Zuspitzung" nennt. Er konfrontiert sie mit ihren persönlichen Prioritäten, fragt nach, wenn es um Freundschaften und das Verhältnis zum Partner geht. "Dann kommen wir meistens an den Punkt, an dem sie merken, dass sie auf dem Weg in den Burnout sind", sagt Ahrens.

In seinen Coachings setzt er dann auf das Konzept der "somatischen Marker" des portugiesischen Neurowissenschaftlers Antonio Damasio. Es basiert auf der Annahme, dass jede Erfahrung emotional markiert und abgespeichert wird. Über die somatischen Marker bekommen die Klienten einen Zugang zu ihren überwiegend unbewussten Erfahrungen. Ahrens erarbeitet dann eine Strategie, mit der sie positive Erinnerungen in Stress-Situationen abrufen können.

"Am Ende des Prozesses kann das ein Bildschirmschoner-Motiv aus dem Urlaub sein, das den emotionalen Zugriff auf die positive Erinnerung möglich macht", sagt Ahrens. Das Prinzip, erzählt er, stammt aus der Werbung. "Priming" heißt es dort und soll die positiven Erinnerungen potentieller Kunden wecken. Nichts anderes empfiehlt er ausbrennenden Managern, wenn sie nicht mehr weiterwissen: Sie werben bei sich für sich selbst.

"Offenbar gab es Handlungsbedarf"

Thomas Barann, der Personalleiter bei der Gothaer-Versicherung, dessen Kollegen ihren alten Postkorb vermissen, hat nach einer Mitarbeiterbefragung externe Stress-Coaches engagiert. "30 bis 50 Prozent der Kollegen aus einer Abteilung haben sich angemeldet, das hat mich schon überrascht", sagt er. "Offenbar gab es Handlungsbedarf." Die Postkörbe waren nur ein Merkmal, das die Überforderung illustrierte. Jetzt gehören exakte Zielvereinbarungen zum Arbeitsalltag, so erzählt es Barann.

Auch Meyra, ein Rollstuhlhersteller im Lipper Bergland, baut schon seit längerem auf externe Arbeitswissenschaftler. "Das war am Anfang nicht leicht durchzusetzen, gerade bei den Kollegen in der Produktion", sagt Rolf Baumanns, als Geschäftsführer verantwortlich für 450 Mitarbeiter. "Bei uns ging es darum, das Vertrauen der Kollegen in die Firma wieder zu festigen. Die Entscheidung der Vorarbeiter und Meister muss für den Einzelnen nachvollziehbar sein."

Kommunikation kann auch Stress bedeuten - und: "What would Google do?"

Die Berater hätten nun bei Meyra, so erzählt es Baumanns, eine offene Kommunikation und klare Regeln für Entscheidungsprozesse geschaffen. "Wie spreche ich mit meinen Kollegen, wie begegne ich Konflikten, das waren die Aufgaben." Die Firma habe den Einsatz im Gesundheitsmanagement sogar evaluieren lassen. "Für einen investierten Euro bleibt uns ein betriebswirtschaftlicher Vorteil von fünf bis sieben Euro. Dass Leute, die sich wohl fühlen, auch besser arbeiten, wusste ich schon vorher, aber ich wusste nicht, wie ich es ohne fremde Hilfe anstellen sollte, dass sie sich wohler fühlen."

Vielleicht sind viele Chefs mit dem Wohlfühlfaktor bei der Arbeit wenig vertraut, weil er erst seit wenigen Jahren durch die akademische Disziplin der Arbeitswissenschaft bekannt wurde. Martin Braun etwa ist einer, der das "Human Factors Engineering" zu seinem Beruf gemacht hat.

Braun arbeitet beim Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation in Stuttgart, und wenn er könnte, wie er wollte, dann sähen deutsche Büros nicht so aus, wie sie es immer noch in der Mehrzahl tun: entweder Großraum oder Zelle. Dazwischen gibt es wenig, wie Braun erzählt.

"Wir brauchen Ruhe und Austausch, Offenheit und Rückzug"

"In den letzten Jahren haben viele Firmen versucht, ihre Mitarbeiter durch die Architektur in Großraumbüros zusammenzubringen. Das basierte auf der Annahme, der Mensch brauchte den Austausch bei der Arbeit. Das ist oft nach hinten losgegangen", sagt Braun. "Kommunikation kann auch Stress bedeuten. Von den Gehirnforschern wissen wir, dass das Gehirn wie ein Spiegel funktioniert, der ruhen muss, um seinen Dienst zu tun."

Und so versucht er, die Personalchefs, die er berät, vom "polaren Büro" zu überzeugen: einem Ort, der Rhythmizität in der Arbeit zulässt, wie Braun es formuliert. "Wir brauchen Ruhe und Austausch, Offenheit und Rückzug."

Sollte also ausgerechnet Google alles richtig gemacht haben? In der Hamburger Zentrale des Suchmaschinenbetreibers hatten die Büroarchitekten großen Einfluss.Zwar sitzen die meisten Mitarbeiter vor ihren Rechnern in Großraumbüros, aber überall finden sich Rückzugswinkel mit Sitzsäcken, zwei winzige Ein-Mann-Rückzugsräume (Türschild: "Ersticken" und "Erstinken") mit Telefon und kleinen Kaffeeküchen. Reicht das schon, um die Stimmung positiv zu beeinflussen?

An einem zufällig gewählten Freitag im Januar empfängt die Schnauzer-Dame "Minx" jeden Besucher mit Gebell, eine junge Mutter im Erziehungsurlaub präsentiert den Kollegen ihre Tochter, und am Nachmittag findet in der Kantine die TGIF-Versammlung statt: Thank God It's Friday, und jeder darf sagen, was ihm nicht gepasst hat in der Woche.

Was wirklich getan werden muss

"Wir versuchen, die alten Fehler der Büroarbeit zu vermeiden", sagt Kay Oberbeck, der Google in Deutschland vertritt. "Ein Tag in der Woche ist unser 18-Uhr-Tag, das heißt, um sechs sind wir hier weg." Falls das nicht klappt, legen die Kollegen einen Traffic-Light-Day ein: Sie unterteilen die Arbeiten eines modellhaften Tages in rote, gelbe und grüne Tätigkeiten, delegieren die roten und bündeln im Idealfall die gelben. "So wird sichtbarer, was wirklich getan werden muss", sagt Oberbeck.

Am berühmtesten ist Google als Arbeitgeber wohl mit seiner 20-Prozent-Regel geworden: An einem Tag der Woche haben die Angestellten Gelegenheit, Projekte zu verfolgen, die ihnen am Herzen liegen, ob sie mit dem Konzern zu tun haben oder nicht. "Google Mail ist auf diese Weise entstanden", sagt Oberbeck, "oder Google News." Einige Google-Leute unterstützen aber an ihrem freien Tag auch wohltätige Projekte. "Man kann hier alles vorschlagen", sagt Oberbeck, "das wird aber auch erwartet."

Dass Erwartungen Stress erzeugen können, liegt auf der Hand. Reinhard Ahrens, der Coach der Dax-Bosse, erzählt, nachdem er sein neurowissenschaftlich unterfüttertes Coaching erläutert hat, zum Schluss noch, wie er selbst seinen Stress moderiert. "Wenn wir fremde Ziele zu unseren machen, entsteht auf Dauer ungesunder Stress", sagt er und fügt hinzu, dass Telefonanrufe eigentlich eine Katastrophe seien, aus arbeitswissenschaftlicher Sicht. Er lässt Anrufer deshalb gern auf die Mailbox sprechen, hört die Nachricht zu einem Zeitpunkt ab, der gut in seinen Arbeitstag passt - und antwortet dann per Mail. Ganz stressfrei.

Jochen Brenner ist SPIEGEL-Redakteur.

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